Wieso wird gestreikt?
Erst die Proteste der Landwirte, jetzt die Bahn. Aktuell wird wieder viel in Deutschland gestreikt. Aber wieso eigentlich? Wir haben mit dem Streikforscher Alexander Gallas von der Uni Kassel gesprochen.
Warum ist gefühlt immer Streik?
Das Gefühl, dass immer gestreikt wird, kommt daher, dass sich die Streiks verlagert haben - in den Dienstleistungsbereichen, in den öffentlichen Sektoren. Wenn in der Schule, im ÖPNV oder im Einzelhandel gestreikt wird, bekommen wir das sofort mit. Anders ist es, wenn zum Beispiel in der Autoindustrie gestreikt wird. Das merken wir weniger in unserem Alltag.
Wann dürfen wir überhaupt streiken?
Streiken ist ein Grundrecht, das sich aus dem Grundgesetz ergibt. Es besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten. Und das Streikrecht ist ein Mittel, mit dem die Beschäftigten dieses Machtungleichgewicht ein Stück weit ausgleichen können. Das Streikrecht macht unsere Gesellschaft also sozialer und demokratischer. Zu Streiks aufrufen dürfen in Deutschland die Gewerkschaften allerdings nur, wenn ein Tarifvertrag ausgelaufen ist bzw. wenn ein neuer Tarifvertrag ausgehandelt wird.
Welche Auswirkungen haben Streiks?
Erstmal unterbrechen Streiks alltägliche Abläufe. Mein Bus oder mein Zug fährt nicht, mein Kind kann nicht in die Kita oder in die Schule. Das finden viele anstrengend. Mittelfristig profitiert die breite Bevölkerung allerdings von Streiks. Bessere Löhne kurbeln die Wirtschaft an. Bessere Arbeitsbedingungen in der Kita, Schule oder in der Pflege bedeuten auch bessere Betreuung.
Kannst du uns ein Beispiel nennen, welcher Streik eine nachhaltige Wirkung hatte?
1956-57 wurde in der Metallindustrie in Schleswig-Holstein 114 Tage lang gestreikt. Ergebnis war, dass die Lohnvorzahlung im Krankheitsfall eingeführt wurde, am Ende in der gesamten Bundesrepublik. Die Lohnvorzahlung gibt es heute noch. Am Ende sind alle sozialen Errungenschaften und sozialen Rechte, über die wir heute verfügen, irgendwann von Beschäftigten erkämpft worden und Streiks spielen da eine ganz zentrale Rolle.
Gab es schon immer so viele Streiks?
Die Streikbereitschaft steigt in den letzten Jahren. Allerdings war es in Deutschland in den Nullerjahren sehr ruhig. Deshalb entsteht der Eindruck, dass sehr viel gestreikt wird. Im europäischen Vergleich ist Deutschland allerdings nur im Mittelfeld.
Woher kommt die Streikbereitschaft gerade?
Erstens haben die Beschäftigten aufgrund der Inflation wenig Geld in der Tasche. Es ist für viele Leute schwierig, Rechnungen oder auch die Miete zu bezahlen. Und zweitens ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt relativ entspannt. Arbeitskräfte werden eher gesucht. Die Leute trauen sich mehr, weil sie wissen, dass sie sich nicht vor Arbeitslosigkeit fürchten müssen.
Wieso gibt es in Deutschland keinen Generalstreik?
Nach der herrschenden Rechtsauffassung in Deutschland sind Generalstreiks, also Streiks über alle Branchen hinweg, verboten. Teile der Gewerkschaften sind da allerdings anderer Auffassung. Sie versuchen, in die Richtung des Generalstreiks zu gehen, indem sie sich abstimmen. Verdi und die Eisenbahngewerkschaft EVG haben im März 2023 am gleichen Tag im Verkehrsbereich gestreikt. Das wurde „Megastreik“ genannt. Der Streik wurde durch die Bündelung der Kräfte größer und wirkungsvoller.
Wird in Zukunft eher mehr oder weniger gestreikt?
Es zeigt sich in vielen Ländern, dass wieder mehr gestreikt wird. Und meine Vermutung ist, dass sich das zukünftig verstärkt. Die Gesellschaften in vielen Teilen der Welt werden älter. Arbeitsstellen werden frei und Arbeitskräfte werden gesucht. Das sind günstige Bedingungen für Streiks, weil die Beschäftigten keine Arbeitslosigkeit fürchten.
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